Am 8. April 2022 wurde mit einem großen Festakt der nördliche Flügel des Markusplatzes wieder eröffnet – oder eigentlich müsste man sagen: erstmals eröffnet. Die Procuratie Vecchie waren als Amts- und Wohnsitz der Procuratori, engsten Dogenmitarbeitern, vor 500 Jahren errichtet worden. Ab 1832 ließ sich die Versicherungsgesellschaft Generali hier nieder und somit war das Gebäude nie der Öffentlichkeit zugänglich. Das hat sich nun geändert. Denn in das Dachgeschoss ist die The Human Safety Net eingezogen, eine Stiftung, die Flüchtlinge bei einer neuen Existenzgründung unterstützt. Ihre Räumlichkeiten mit Blick auf das bunte Leben des Markusplatzes sind frei zugänglich. Hier oben befinden sich Ausstellungsräume, ein Auditorium, ein Café und Platz zum freien Arbeiten und Zusammenkommen.
Die ikonische Fassade mit ihren 50 Bögen im Erdgeschoss und den jeweils 100 Bögen im ersten und zweiten Geschoss, begonnen von Bartolomeo Bon und vollendet von Jacopo Sansovino, definiert die Nordseite des Markusplatzes. Hinter dieser Einheitlichkeit fanden die Planer zu ihrem Erstaunen eine sehr komplexes Gebäude, bestehend aus ineinander verschachtelten Baukörpern, vielen kleinen Räumen, Treppen, Lichthöfen und Zugängen. Die ursprüngliche vertikale Gliederung war bei Einzug der Generali einer horizontalen gewichen, notwendig, um die Büros miteinander zu verbinden.
Die Planer verstanden die Vielschichtigkeit des Gebäudes und die damit verbunden Notwendigkeit, ihre Arbeit als Prozess zu begreifen, ohne allzu große vorgefertigte Ideen oder Ziele. Sie wollten nahe am Gebäude bleiben und ließen sich dabei von drei Grundsätzen leiten: “repairing, reunifying and adapting“.
Neben der Haustechnik, das Gebäude ist emissionsfrei, da es ausschließlich mit Strom aus erneuerbaren Energiequellen gespeist wird, betraf das „adapting“ hauptsächlich die neue Erschließung, sprich das Erreichen des Dachgeschosses. Dies geschieht durch die Fortsetzung einer bestehenden Treppe, deren drei Rampen in ihrer einheitlichen Materialität einer begehbaren Skulptur gleichen. Die Treppe führt auch zu den neu entstandenen Dachterrassen mit ungewohnten Blick auf den Campanile. Während die Räume der beiden Hauptgeschosse in erster Linie restauriert wurden „repairing“, wurde der Raum des Dachgeschosses grundlegend verändert. Eine Serie großer Bögen ermöglicht den Blick durch das Gebäude und es in seiner erstaunlichen Länge auch im Inneren zu begreifen. Die Wände sind nur leicht geweißt, so dass sie trotz Vereinheitlichung „reunifying“ noch viel aus ihrer Geschichte preisgeben.
Es ist ein Ort entstanden, der mit Leben und Bedeutung gefüllt werden will, kein Ort zum schnellen schauen und abfotografieren, und deshalb so wichtig ist für eine Stadt wie Venedig, wenn sie ihr Schicksal in neue Bahnen lenken möchte.
Text: Anabel Gelhaar